1. Was ist eine asymmetrische Gerichtsstandsklausel?
Die Parteien vereinbaren zunächst die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte eines bestimmten Staates, stellen dann aber klar, dass es keiner Finanzierungspartei untersagt ist, Verfahren bei einem anderen zuständigen Gericht einzuleiten. Somit ist der vereinbarte Gerichtsstand nur für den Darlehensnehmer und die etwaigen Garantiegeber obligatorisch.
2. Was hat Air Berlin damit zu tun?
Air Berlin hatte einen Darlehensvertrag und eine Patronatserklärung mit ihrer Mehrheitsgesellschafterin Etihad Airways PJSC („Etihad“) geschlossen. Darin stand eine asymmetrische Gerichtsstandsklausel. Der Insolvenzverwalter der Air Berlin forderte von Etihad Schadensersatz aus diesen Verträgen. Dafür erhob er Klage in Berlin. Etihad dagegen klagte in London. Und so kam es zum Streit über die Zuständigkeit der angerufenen Gerichte.
3. Um welche Klausel geht es?
“The courts of England shall have exclusive jurisdiction to settle any dispute arising out of or in connection with this Agreement (including a dispute relating to non-contractual obligations arising from or in connection with this Agreement, or a dispute regarding the existence, validity or termination of this Agreement) (a „Dispute“).
The Parties agree that the courts of England are the most appropriate and convenient to settle Disputes and accordingly no Party will argue to the contrary.
This clause is to the benefit of the Lender only. As a result, the Lender shall not be prevented from taking proceedings relating to a Dispute in any other courts with jurisdiction. To the extent allowed by law, the Lender may take concurrent proceedings in any number of jurisdictions.”
Demnach sind die englischen Gerichte grundsätzlich ausschließlich für sämtliche Streitigkeiten aus oder im Zusammenhang mit dem Darlehensvertrag zuständig. Etihadbleibt aber berechtigt, eine Klage alternativ auch vor anderen zuständigen Gerichten zu erheben.
4. Wo ist das Problem?
Es besteht ein Ungleichgewicht in der Zuständigkeitsverteilung. Daher stellt sich die Frage, ob so eine Klausel wirksam ist.
5. Jetzt zu Frankreich. Was ist da in der Rechtsprechung passiert?
Die Cour de cassation, Frankreichs höchste Zivilgerichtsbarkeit, hatte in mehreren Entscheidungen (2012 und 2015) asymmetrische Gerichtsstandsklauseln für unwirksam erklärt. Folge: Es gilt die gesetzliche Zuständigkeitsregelung, so als ob niemals eine Zuständigkeitsvereinbarung getroffen worden wäre.
6. Was hat die französische Rechtsprechung mit den anderen EU-Staaten zu tun?
Auf den ersten Blick nichts, denn für die Gerichte anderer Mitgliedstaaten sind ihre jeweiligen Revisionsgerichte maßgeblich und nicht die eines anderen Staates. Auf den zweiten Blick hat die französische Rechtsprechung aber sehr viel mit den anderen EU-Staaten zu tun. Es ging nämlich um eine Bestimmung aus einer EU-Verordnung (Brüssel-Ia-VO), also einer in allen EU-Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren Rechtsnorm. Und solange kein EuGH-Urteil über diese Auslegungsfrage entscheidet, muss man die Cour de cassation als eine hochrangige Autorität betrachten, über die sich Gerichte anderer EU-Mitgliedstaaten erst einmal mit guten Gründen hinwegsetzen müssen.
7. Was wollte die Cour de cassation genau?
Wie man an einem Verfahren aus 2015 sieht, lehnt die Cour de cassation asymmetrische Gerichtsstandsklauseln nicht grundsätzlich und immer ab. Problematisch findet die Cour de cassation aber, wenn die Klausel nicht bestimmt genug ist. Ein bloßer Verweis auf alle anderen zuständigen Gerichte genüge nicht den Anforderungen an die Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit. Dazu kommen Argumente, die sich auf bestimmte Vorschriften aus dem französischen Code civil beziehen. Einem Schuldner, der einseitig über die Erfüllung der ihm obliegenden Verpflichtung entscheiden kann, habe den erforderlichen Rechtsbindungswillen nicht. Diskutiert wird auch, ob es sich um eine inhaltlich unangemessene Bedingung handelt.
8. Was meint die deutsche Rechtswissenschaft dazu?
Die herrschende Meinung in Deutschland lehnt die Rechtsprechung der Cour de cassation ab. Sie sieht im Verweis auf alle anderen zuständigen Gericht kein Bestimmtheitsproblem, sondern findet, dass mit diesem Verweis nur auf die ohne jede Vereinbarung kraft Gesetzes geltende Rechtslage verwiesen wird, ohne dass etwas abgeändert wird. Die europäische Verordnung gestatte der Cour de cassation nicht, Erwägungen nationalen französischen Rechts dazu anzustellen, ob Rechtsbindungswille und eine Willenseinigung vorliegen. Auch für die Prüfung inhaltlicher Unangemessenheit sei kein Raum, denn solche Kontrollen seien in der Verordnung nur für beispielsweise Verbrauchersachen vorgesehen.
9. Wie ist es bei Air Berlin ausgegangen?
Sowohl die deutschen als auch die englischen Gerichte entschieden (in der Berufungsinstanz Dezember 2020), dass die englischen Gerichte für die Schadensersatzklage des Insolvenzverwalters ausschließlich zuständig sind. Daran ändere auch der im Laufe des Prozesses vollzogene Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union nichts.
10. Wieso jetzt London?
Grundsätzlich entscheidet gemäß der EU-Verordnung das Gericht, das zuerst angerufen wird, ob es zuständig ist. Das wäre eigentlich Berlin gewesen, denn der Insolvenzverwalter von Air Berlin hatte zuerst dort Klage erhoben. Diese Regel gilt nach einer neuen Ausnahmevorschrift (Art. 31 Abs. 2 Brüssel-Ia-VO) allerdings dann nicht, wenn eine Partei das Gericht eines Mitgliedstaates anruft, das aufgrund einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung mutmaßlich zuständig ist: In diesem Fall muss auch ein früher angerufenes Gericht das Verfahren aussetzen, bis das auf Grundlage der Vereinbarung (ausschließlich) zuständige (und später angerufene) Gericht die Zuständigkeitsfrage geklärt hat. So kam es. Berlin wartete auf London.
11. Was heißt das jetzt für mich als Darlehensnehmer, wenn ich eine die asymmetrische Gerichtsstandsklausel in meinem Vertrag finde?
Bisher war in der Rechtwissenschaft unklar, ob die Ausnahmevorschrift Art. 31 Abs. 2 Brüssel-Ia-VO auf asymmetrische Gerichtsstandsklauseln anwendbar ist. Dank Air Berlin gibt es jetzt ein prominentes Beispiel dafür, in dem Art. 31 Abs. 2 Brüssel-Ia-VO zur Anwendung gekommen ist.
Das bedeutet: Weder deutsche noch französische Darlehensnehmer können sich noch darauf verlassen, dass die Cour de cassation sie vor einer asymmetrischen Gerichtsstandsklausel schützt, in der ein Gericht außerhalb Frankreichs vereinbart wird. Die Air-Berlin-Entscheidung zeigt den Darlehensgebern einen Weg auf, die Rechtsprechung der Cour de cassation auszuhebeln. Darlehensgeber, die das möchten, werden eine parallele Klage vor diesem vereinbarten nicht-französischen Gericht erheben. Folge: Die französischen Gerichte werden dann ihr Verfahren aussetzen und warten, ob sich das andere Gericht für zuständig erklärt. Das kann ungünstig für die Darlehensnehmer ausgehen, denn diese nicht-französischen Gerichte brauchen sich nicht an die Rechtsprechung der Cour de cassation zu halten, wenn sie über die Wirksamkeit der asymmetrischen Gerichtsstandsklausel entscheiden. Allerdings weiß man noch nicht, ob der Europäische Gerichtshof eines Tages diese Praxis zur Entscheidung vorgelegt bekommt, und was er davon hält.
Irrelevant ist dieser Verfahrenstrick in Bezug auf asymmetrische Gerichtsstandsklauseln, wenn der Darlehensgeber eine französische Bank ist. Dann wird in der Gerichtsstandsklausel in der Regel die Zuständigkeit französischer Gerichte vereinbart sein. In diesem Fall kann der Darlehensgeber nicht vor der Cour de cassation fliehen, indem er eine parallele Klage vor dem vereinbarten Gericht erhebt, denn das ist ja gerade ein französisches Gericht, das die Rechtsprechung der Cour de cassation anwenden wird.
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Autor: Andreas Hofmann, Rechtsabteilung Frankreich, SaarLB